Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg von Berlin

7_preistraeger_berlin.jpg

Foto der Preisträgerinnen und der Auslober des Wettbewerbs
Foto der Preisträgerinnen und der Auslober des Wettbewerbs, ©BZgA, Foto: Christian Hahn, Berlin

Auszug aus der Wettbewerbsdokumentation

Kommune und Wettbewerbsbeitrag im Überblick

Einwohnerzahl 275.6911
Bundesland Berlin
Titel des Beitrags "Vergiss mich nicht"
Schwerpunkt des Beitrags Seit 2008 vermittelt und begleitet das Patenschaftsprojekt "Vergiss mich nicht" ehrenamtliche Patenschaften für 2-12-jährige Kinder aus suchtbelasteten Familien.
Kontakt Sylke Lein
Julia Thöns
Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg von Berlin
Qualitätsentwicklung, Planung und Koordination des öffentlichen Gesundheitsdienstes Suchthilfekoordination, Suchtprävention
Yorckstraße 4-11
10965 Berlin
Tel.: +49 30 90298-3540
E-Mail: julia.thoens@ba-fk.berlin.de
1 Die Einwohnerzahlen der prämierten Kommunen wurden der folgenden Quelle entnommen: Bertelsmann Stiftung: Wegweiser Kommune, www.wegweiser-kommune.de (Abruf April 2016); die Zahlen beziehen sich auf den Stand vom 31.12.2014.

Anlass und Ausgangssituation

Etwa 2,6 Millionen Kinder leben deutschlandweit in Familien mit einem suchtkranken Elternteil. Schätzungen zufolge handelt es sich berlinweit um rund 70.000 betroffene Kinder. In den Familien führen Scham und Angst zu einer Tabuisierung des Themas Sucht. Die Kinder spüren, dass nicht darüber geredet werden darf.

Die Problemlagen in suchtbetroffenen Familien sind vielschichtig und komplex. Handlungsbedarf besteht auf unterschiedlichen Ebenen. Infolge der Suchtkrankheit der Eltern müssen Kinder in diesen Familien häufig Funktionen übernehmen, die üblicherweise den Erziehungsberechtigten obliegen. So kümmern sie sich um jüngere Geschwister, übernehmen Aufgaben im Haushalt und sind für die Eltern emotionale Stützen. Die betroffenen Kinder verhalten sich oft unauffällig. Einige suchen allerdings die Aufmerksamkeit in der Rolle als "Schwarzes Schaf", indem sie Regeln und Grenzen überschreiten. Diese Kinder fallen häufig durch aggressives Verhalten auf. Die Hemmschwelle der Eltern, sich an das Jugendamt zu wenden, ist generell groß.

Die Zielgruppe der Kinder ist zwar nicht selbst süchtig, aber sehr gefährdet, später selbst suchtbelastet zu werden: Kinder suchtkranker Eltern haben in weit höherem Maße als ihre Altersgenossen die Disposition, selbst alkoholabhängig zu werden oder eine andere psychische Krankheit zu entwickeln. Sie haben außerdem ein weit höheres Risiko, Beziehungen mit Suchtmittelabhängigen einzugehen.

Zusammenfassend ist die Ausgangslage für die betroffenen Kinder hochgradig problematisch: altersuntypische Aufgaben, Unberechenbarkeit und emotionale Instabilität der Eltern sowie häufig ein Mangel an Aufmerksamkeit, da sich sowohl das private Umfeld als auch die professionellen Angebote der Sucht- und Jugendhilfe auf die Eltern konzentrieren. Dabei sind die multiplen sozialen Belastungen für die Zielgruppe immens und haben zur Folge, dass ihre gesundheitlichen und psychosozialen Entwicklungschancen und letztlich die Chance auf soziale Teilhabe erheblich gemindert sind - insbesondere dann, wenn die Ressourcen der Kinder nicht entdeckt und gefördert werden. Der Bedarf der Kinder an Aufmerksamkeit, Zuwendung und Geborgenheit ist jedoch groß, da auch in ihrem Leben die Sucht der Bezugspersonen bestimmend ist und häufig wenig Raum für ihre eigene kindgerechte Entwicklung bleibt.

Konzeption und Ziele

Vor diesem Hintergrund vermittelt und begleitet das Patenschaftsprojekt "Vergiss mich nicht" ehrenamtliche Patenschaften für Kinder aus suchtbelasteten Familien. Es ist vom Bezirk initiiert und besteht seit 2008 unter der Trägerschaft des Diakonischen Werkes Berlin Stadtmitte e.V.

Hauptziel des Projektes ist es, die Kinder so zu stärken, dass sie sich später stabil und gesund entwickeln. Laut Ergebnissen der Resilienzforschung besteht ein wichtiger Stabilitätsfaktor darin, dass Kinder eine konstante Beziehung zu einer stabilen erwachsenen Bezugsperson haben, die ihnen Halt gibt. Dieser soziale Kontakt bietet dem Kind Anregungen und Hilfestellungen, um akute Belastungssituationen effektiv bewältigen zu können, und alternative Verhaltensmodelle an.

Weitere kurz- und mittelfristige Ziele sind u.a. die Förderung von bürgerschaftlichem Engagement durch die Aktivierung von Ehrenamtlichen, Öffentlichkeitsarbeit über die Auswirkungen von elterlicher Sucht auf die Kinder sowie die Vernetzung von Jugendhilfe und Suchthilfe.

Vorgehen und Umsetzung

Ein PatentandemSeit 2010 wurden 53 Patenschaften vermittelt, einige bestehen bereits seit fünf Jahren und laufen erfolgreich weiter. Die Akquise der ehrenamtlichen Patinnen und Paten findet über diverse Ehrenamtsbörsen (Gute Tat.de, Freiwilligenagenturen der Bezirke, Freiwilligenagentur charisma) und Internet-Auftritte (eigene Website, Facebook, Betterplace-Zeitspenden) statt, die Patinnen und Paten werden ausführlich überprüft und geschult.

Die Patentandems treffen sich über einen längeren Zeitraum (mindestens 18 Monate) einmal wöchentlich an einem festen Nachmittag. Pate oder Patin und Patenkind verbringen somit regelmäßig Zeit miteinander und gestalten und erleben eine an den kindlichen Bedürfnissen und Interessen orientierte Freizeitaktivität.

Ein PatentandemIn dieser Zeit geht es nicht um die Suchtproblematik zu Hause. Die gemeinsamen Unternehmungen dienen vielmehr als Entlastung von der schwierigen Situation dort und geben dem Kind die Möglichkeit, sich selbst und die eigenen Bedürfnisse wahr- und ernst zu nehmen. Die Kinder erleben durch die Patenschaft eine stabile Beziehung, wodurch ihre Beziehungsfähigkeit und das Vertrauen auf die Unterstützung durch Erwachsene gefördert werden.

Begründung der Prämierung

"Vergiss mich nicht" erreicht Kinder, für die es bisher kein spezifisches Angebot gab. Das bewährte Modell der Patenschaft wird hier innovativ eingesetzt, um eine besonders schwer zu erreichende Zielgruppe anzusprechen.

Zudem wird eine Zielgruppe in einer ganz häufig schwierigen sozioökonomischen Lage adressiert. Vorhandene Jugend- und Suchthilfestrukturen haben oftmals große Schwierigkeiten, diese Familien zu erreichen. Deren Hemmschwellen, sich an das Jugendamt zu wenden, sind offenbar immens. Da das Projekt über Spenden und Zuwendungen finanziert wird, müssen keine komplizierten Anträge gestellt und auf Zusagen zu Kostenübernahmen gewartet werden. Ein direkter Kontakt zu Behörden ist nicht nötig, alles wird über den Träger geklärt.

Das Projekt verfolgt einen geschlechtersensibler Ansatz: Die Schulungen der Patinnen und Paten behandeln Themen wie geschlechtergerechte Pädagogik und Rollenvorbilder unter Gender-Aspekten. Auch die bereits aktiven Patinnen und Paten setzen sich in Workshops mit traditionellen Geschlechterstereotypen auseinander.

Ein Großteil der Patinnen und Paten wird über Social Media und Internet akquiriert. Neue Medien werden also gezielt eingesetzt. Vor allem der "Betterplace"-Auftritt des Projekts entfaltet hier eine große Wirkung. Auf einer Facebook-Seite können sich Patinnen und Paten sowie Interessierte über das Projekt informieren, Termine werden bekannt gegeben und über aktuelle Entwicklungen informiert.

Innovativ ist ebenfalls die Förderung zivilgesellschaftlichen Engagements für Kinder aus suchtbetroffenen Familien. Gerade auch junge Menschen, wie zum Beispiel Studierende, werden durch das Patenschaftsprojekt angesprochen.

Ein PatentandemHervorzuheben ist zudem das Qualitätsmanagement. Auswahlverfahren und Mapping der Patenschaften sind standardisiert und werden von einem multiprofessionellen Team in mehreren Schritten durchgeführt. Besteht eine Patenschaft, so wird sie regelmäßig mittels Fragebögen evaluiert. Einmal pro Monat und bei akutem Bedarf finden Fallbesprechungen mit Kolleginnen und Kollegen der Suchtberatung sowie Supervision der Projektkoordination statt. Weiterhin gibt es Treffen der Patinnen und Paten sowie gemeinsame Feste, an denen alle Tandems teilnehmen.

Vorbildlich sind schließlich Vernetzung und Kooperation des Projekts mit dem Jugendamt, Einrichtungen der Suchthilfe (z.B. Beratungsstellen), anderen Patenschaftsprojekten, der AG "Kinderschutz und Sucht", in der Träger und Institutionen der Jugend-, Sucht- und Gesundheitshilfe des Bezirkes Friedrichshain-Kreuzberg zu diversen Fachthemen arbeiten, und dem berlinweiten "AK Kinder aus suchbelasteten Familien", der von der Fachstelle für Suchtprävention koordiniert wird.

 

Zum Originalwettbewerbsbeitrag des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg von Berlin.