Entgegen der allgemeinen Einschätzung, dass sozial benachteiligte Jugendliche wenig
„gruppenfähig“ seien, hat sich aus der Arbeit im Jugendcafe eine sich wöchentlich treffende
Gruppe entwickelt, die die Lebenserfahrungen der Jugendlichen zum Thema hat. Die Gruppe
wurde von den teilnehmenden Jugendlichen selbst eingefordert und wird von hauptamtlichen
MitarbeiterInnen begleitet.
Im Unterschied zu Selbsthilfegruppen, wie z.B. AA oder OA, ist diese Gruppe nicht an eine
bestimmte Suchterfahrung, gebunden sondern eine Reaktion der Jugendlichen auf ihre
Sehnsucht nach tragfähiger Gemeinschaft, um aus der gegenseitigen Begleitung und Anteilnahme
Kraft für die alltäglichen Herausforderungen des Lebens zu gewinnen. Insofern ist sie
umfassend suchtpräventiv.
Der Name der Gruppe „Irgendwas ist immer“ beschreibt das Bedürfnis der teilnehmenden
Jugendlichen, Schönes oder Belastendes im Erzählen positiv zu verarbeiten. Die Reflexion
auf die eigenen positiven und negativen Erfahrungen der vergangenen Woche, die Formulierung
vor anderen, interessiert und mit Anteilnahme gehört zu werden und andere einfühlsam
zu begleiten und zu unterstützen, machen die suchtpräventive Wirkung dieser Gruppe aus.
Wir gehen davon aus, dass die Fähigkeit, Gefühle zu äußern, besonders auch negative, die
Gefahr Gefühle zu verdrängen oder durch Suchtmittel zu betäuben, minimiert.
Die teilnehmenden Jugendlichen begegnen sich nicht anonym. Sie sind gemeinsam aufgewachsen
und in ihrem Lebenskontext durch alltägliche Begegnungen und gemeinsame
Grunderfahrungen vielfach verbunden. Indem sie sich einander anvertrauen, verbünden sie
sich und stärken einander. Dass dies im suchtfreien Kontext geschieht - also nicht mit Bier
und Zigaretten in der Kneipe oder im Park - und den Jugendlichen in bisher nicht gekannter
Intensität gelingt, schafft positive suchtpräventive Erfahrungen.
Beispiel: Eine ältere Jugendliche, die alle kannten, hatte zwei Tage vor dem Gruppentreffen
Selbstmord begangenen. Die Jugendlichen sind alle sehr betroffen von dem Ereignis. Sie
sind sich ihrer eigenen Suizidgefährdung aufgrund Frustrationen, Misserfolge, Leistungsdruck
bewusst. Normalerweise würden sie ihre Betroffenheit durch gemeinsamen Suchtmittelgenuss
überspielen und verdrängen. In der Gruppe werden sie mit ihren Gefühlen aufgefangen,
können ihre Betroffenheit äußern und müssen sich nicht stärker zeigen als sie sind.
Im Gegenteil, sie erfahren: echt sein führt zu tragendenden Gemeinschaftserfahrungen.
Der Verlauf der Gruppentreffen wird vom äußeren Rahmen und von einem ritualisierten Ablauf
bestimmt. Jeder entzündet zu Anfang seine Kerze und stellt sie in die Mitte. Die Jugendlichen
beginnen damit, in ihr Tagebuch Positives, Negatives und Wünschenswertes aus der
vergangenen Woche zu notieren und damit zu verarbeiten. Dann kann jeder der Reihe nach
berichten, was ihm erzählenswert erscheint. Das Vertiefen einzelner Anliegen im Gruppengespräch
ist möglich. Eine Zeit „gemütlichen Beisammenseins“ ermöglicht weiter führende
Einzelgespräche. Dadurch kann die eigene Suchtgefährdung frühzeitig erkannt und in der
Gruppe positiv bearbeitet werden.
Die Teilnahmedisziplin und die Attraktivität der Gruppe ist bei den 15 teilnehmenden Jugendlichen
(9 Mädchen, 6 Jungen) zwischen 14 und 18 Jahren sehr hoch. Die Erfahrung des gegenseitigen
Respekts und der Möglichkeit, einander vertrauen zu können, wird die Bereitschaft
zu verlässlicher Partnerschaft und Bindung und die eigene Beziehungsfähigkeit bei
den Jugendlichen sehr erhöhen. Verlässliche Beziehungen aber sind in hohem Maße suchtpräventiv.