Beschreibung des Wettbewerbsbeitrags
Titel des Wettbewerbsbeitrags
Kurzfassung des Wettbewerbsbeitrags
Das Projekt befasst sich mit steigendem Alkoholkonsum von Kindern und Jugendlichen zu regional typischen Anlässen. Die Regionale Gesundheitskonferenz, Arbeitsgruppe Prävention, griff dieses Problem 2006 auf. Die Ursachen wurden untersucht. Vom Gesundheitsamt wurde bereits frühzeitig öffentliche Aufklärung zum Thema betrieben. Das besondere des Beitrags liegt in der außergewöhnlich guten Wirksamkeit speziell für bildungsferne Gruppen sowie in der starken Vernetzung durch die Regionale Gesundheitskonferenz. Es gelang, die Anzahl alkoholvergifteter Kinder für die Altweiberfaschingszeit ausgehend von den Werten 2006 kontinuierlich um zuletzt 83 % zu senken. Die Erkenntnisse des Projektes wurden auf andere Veranstaltungen im Kreis übertragen. Die Öffentlichkeit konnte erfolgreich für das Problem der minderjährigen Alkoholopfer sensibilisiert werden. Ein erhebliches Informationsdefizit bei Eltern und Kindern wurde aufgedeckt. Seine Minimierung ist seit 2007 Ziel der Arbeitsgruppe.
Beschreibung des Wettbewerbsbeitrags
Ausgangspunkt und Problemstellung
Der Alkoholkonsum von Kindern bei öffentlichen Veranstaltungen rückt zunehmend in das mediale Interesse. Unser Projekt befasst sich regional mit Alkoholkonsum Jugendlicher im öffentlichen Raum, ausgehend vom Altweiberfasching. Nach einer im Frühjahr 2009 bekannt gewordenen Erhebung müssen in Deutschland täglich durchschnittlich mehr als 60 Jugendliche sturzbetrunken teils bewusstlos stationär aufgenommen werden. Damit haben sich nach Angaben von Suchtexperten, so das Deutsche Ärzteblatt, die Fälle seit dem Jahr 2000 mehr als verdoppelt. Demnach betreibt jeder fünfte 12- bis 17-Jährige "binge drinking", d. h. sie trinken mehr als 5 Gläser Alkohol bei einer Gelegenheit.
Medizinisch gesehen sind die 12- bis 18-Jährigen besonders gefährdet: In der Pubertät ist ihr Gehirn "wegen Umbau zeitweilig geschlossen" (Focus). Aus der Hirnforschung wissen wir, dass es sich dabei um einen komplexen Umbau des sensiblen Organs handelt, der für das Heranreifen des Gehirns genauso wie der Persönlichkeit entscheidende Weichen stellt. Wer sich in dieser kritischen Sozialisationsphase angewöhnt, beispielsweise seine Hemmungen mit Alkohol zu bekämpfen, wird ein solches Verhaltensmuster möglicherweise sein Leben lang nicht mehr los. Daneben ist festzustellen, dass die Eltern bei fehlender Erziehungsroutine im Umgang mit Pubertierenden manchmal überfordert sind. Im deutschen Begriff Erziehung steckt schon eine Beschreibung des Problems. Gerade Pubertierende müssen gelegentlich in die richtige Richtung gezogen werden. Dafür sind Auseinandersetzung und Kommunikation sowie liebevolles Interesse der Eltern an den Aktivitäten des Kindes Basisvoraussetzungen.
Vom Bundestrend steigender Alkoholikerzahlen ist auch der Kreis Bad Kreuznach betroffen. Tragischerweise kam am Altweiberfasching 2009 ein 19-Jähriger ums Leben nachdem er im Vollrausch bei mehr als 2 Promille auf eine Bahnstrecke geriet und dort von einem Zug erfasst wurde. Vorzeitige alkoholbedingte Todesfälle im Straßenverkehr durch Unfälle wären bei uns noch zu untersuchen. Sicher ist, diese sind bundesweit einer der wichtigsten Gründe einer verringerten Lebenserwartung der Gruppe der 18- bis 50-jährigen Männer gegenüber den gleichaltrigen Frauen.
Für den Landkreis Bad Kreuznach konnte der Sozialpsychiatrische Dienst am Gesundheitsamt nachweisen, dass die Diagnose Alkoholerkrankung im Bereich der Krisenintervention innerhalb der letzten fünf Jahre stetig zugenommen hat. Wurden 2006 wenig mehr als ein Viertel der Probanden mit Alkoholerkrankung auffällig, sind dies 2010 bereits knapp ein Drittel. 2010 untersuchte der amtsärztliche Dienst 168 Hartz IV Empfänger für die ARGE. Bei den Männern war ein Viertel von der Alkoholkrankheit betroffen. Diese Diagnose führte am häufigsten von allen Diagnosen zur Arbeitsunfähigkeit.
Die Bundesdrogenbeauftragte bezifferte den Gesamtschaden für die Bundesrepublik Deutschland anlässlich einer Presseinformation im Herbst 2010 auf ca. 24 Mrd. Euro (oder 300 Euro pro Einwohner) jährlich. Würde es gelingen, diese Mittel einzusparen und sie dem Kreishaushalt zur Verfügung zu stellen, wäre der Landkreis nach vier Jahren schuldenfrei.
Das Problem wird in seinen Auswirkungen von den Bürgern auch bei uns im Kreisgebiet weiterhin unterschätzt. Die Arbeitsgruppe Prävention der Regionalen Gesundheitskonferenz stellte 2006 bereits fest, dass dieser grenzenlose Alkoholkonsum der Jugendlichen eine ernstzunehmende Gefahr für die Gesellschaft darstellt. "Den Leuten muss bewusst werden, was Alkohol wirklich ist: In kleinen Mengen ein Genussmittel, in großen Mengen aber ein Nerven- und Seelengift" (Hans-Dirk Nies im Jahr 2007, 1. Beigeordnete des Landkreises Bad Kreuznach). Auch der Landrat tritt öffentlich für das Projekt ein, beispielsweise mit der Eröffnungsrede anlässlich des Aktionstages der Regionalen Gesundheitskonferenz zum Thema "Kein Alkohol in Kinderhände" in Kirn 2009. Dort sprach auch der Vizepräsident des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, Herr Bürgermeister Fritz Wagner, der diese Aktion ebenfalls ohne Einschränkung mitträgt.
Das Naheland ist seit etwa zwei Jahrtausenden eine Weinbauregion mit entsprechenden Traditionen und Ritualen. Es liegt unmittelbar westlich der Rheinland-Pfälzischen Landeshauptstadt Mainz, einer Hochburg des Rheinischen Karnevals. Das Kreisgebiet umfasst 863 km² bei knapp 160.000 Einwohnern. Der Karneval wird hierzulande mit vergleichbarer Intensität wie in Mainz gefeiert. Die "fünfte Jahreszeit" an sich ist in der Naheregion schon eine "besondere Lebenslage" für Jugendliche. In der Vergangenheit war regelmäßig ein exzessiver Schwerpunkt des Alkoholkonsums bei Minderjährigen während des Altweiberfaschings zu beobachten. Zu diesem Zeitpunkt treffen sich traditionell aus der Region Bad Kreuznach/Mainz-Bingen sowie den anliegenden Gebietskörperschaften ca. 10.000 Jugendliche und Kinder zu einer ausgedehnten Faschingsparty. Anlässlich dieser Party, so wurde von den Krankenhausmitgliedern der Arbeitsgruppe Prävention berichtet, komme es immer wieder zu extremen Alkoholvergiftungen bei Jugendlichen. Die Krankenhäuser informierten die Arbeitsgruppe, 30 Jugendliche seien 2006 aufgenommen worden und etwa ein Dutzend hätten der intensivmedizinischen Behandlung von mindestens einem Tag bedurft. Es wurde der Arbeitsgruppe schnell klar: "Es muss ein Weg gefunden werden zwischen Brauchtum und Missbrauch" (Dr. Lichtenberg, Amtsarzt Bad Kreuznach).
Die Zusammenarbeit der Partner der Regionalen Gesundheitskonferenz ist per Satzung geregelt. Die Arbeitsgruppe Prävention der Regionalen Gesundheitskonferenz wurde 2001 gegründet. Die Ergebnisse der Arbeitsgruppensitzungen werden protokolliert und den Mitgliedern zugesandt. Folgende Institutionen sind daran beteiligt:
- die beiden regionalen Krankenhäuser kreuznacher diakonie sowie das Krankenhaus St. Marienwörth,
- der Malteser Hilfsdienst und das Deutsche Rote Kreuz,
- die Jugendämter des Landkreises Bad Kreuznach sowie der Stadt Bad Kreuznach,
- Caritas-Verband Suchthilfe,
- die Jugendbeauftragte der Polizeiinspektion Bad Kreuznach,
- die regionalen Sozialstationen,
- die Justiz,
- Vertreter der Karnevalsvereine (seit 2009),
- das Gesundheitsamt, das hier neben den Tagungsräumen auch durch den Amtsarzt (Dr. med. Lichtenberg) als Vorsitzenden und durch die Geschäftsstelle der Regionalen Gesundheitskonferenz (Frau Annemarie Welter) vertreten ist.
Im Arbeitskreis wurden die Ziele der Aktion intensiv diskutiert und auch anhand der Protokolle schriftlich fixiert. Es gilt, die Bedeutung des traditionellen Brauchtums "Karneval" und des Missbrauchs von Alkohol durch die Kids gegeneinander abzuwägen. Diskutiert wurde u. a., ob mehr als 10.000 Jugendliche wegen des Fehlverhaltens einer verschwindenden Minderheit Repressionen durch Verbote ausgesetzt werden sollen. Während die Vertreter der Krankenhäuser zunächst dafür waren, das "generelle Jugendbesäufnis" (Frau Bechtoltsheimer, Diakonie Krankenhaus Bad Kreuznach) schlicht abzuschaffen, gab es auch andere Stimmen, die sich dafür einsetzten, den Kindern ein unbeschwertes Feiern ohne Krankenhausaufenthalte zu ermöglichen. Letzteres wurde nach dem Diskussionsprozess als Ziel von allen Mitgliedern gemeinsam getragen.
"Die Jugendlichen müssen lernen, Alkohol als Genussmittel zu benutzen. Sinnloses Trinken in der Pubertät stört die Sozialisation in unserer Gesellschaft"( Lothar Zischke, Jugendschutzbeauftragter des Landkreises Bad Kreuznach, Jugendamt).
Die Arbeitsgruppe tagt vierteljährlich im Gesundheitsamt, die Tagungsdauer liegt gewöhnlich zwischen 1½ und maximal 2 Stunden. Das Netzwerk wird durch die Kreisspitze (Landrat und 1. Beigeordneten) ohne Einschränkung unterstützt.
Die Arbeitsgruppe verständigte sich darauf, das identifizierte Problem zum Thema des nächsten Aktionstages der Regionalen Gesundheitskonferenz vorzuschlagen. Auch dieser Vorschlag wurde umgesetzt. 2008 und 2009 dokumentierten Mitglieder der Arbeitsgruppe das Fehlverhalten von Jugendlichen während des Altweiberfaschings ausführlich und stellten diese Bilder zu Presseterminen vor.
Vorgehen und Umsetzung
Die Arbeitsgruppe entwickelte 2006 zunächst mit dem Datenschutzbeauftragten des Kreises einen anonymisierten Evaluationsbogen für die Krankenhäuser, mit der alkoholisierte Jugendliche während der Faschingszeit erfasst werden. Dieser wird seit 2007 eingesetzt und der Datenrücklauf vom Gesundheitsamt überwacht.
Gefragt wird u.a.:
- Alter, Geschlecht
- Schule
- Intensivpflichtig: Ja / Nein, Promille
- Erziehungsberechtigte bei der Einlieferung vor Ort: Ja / Nein
Die kommunalen Möglichkeiten des Gesundheitsamtes als Teil der im Netzwerk tätigen Kreisverwaltung wurden und werden wie folgt genutzt:
- Gezielte Öffentlichkeitsarbeit mit Hilfe des Pressesprechers der Kreisverwaltung.
- Enge Verzahnung mit dem Jugendamt und Verbreitung der dort zum Thema schon vorhandenen Info-Materialien.
- Zustimmung des Kreistages durch Breitstellung von Mitteln für die Öffentlichkeitsarbeit des Gesundheitsamtes seit 2009.
- Vorstellung des Projektes 2010 in der Bürgermeisterdienstversammlung des Kreises mit der Folge einer fast flächendeckenden kostenlosen Bereitstellung eines Informationsmediums für die Aufklärungsarbeit (Amtsblätter der Verbandgemeinden).
- Einbinden des Projektes in den Aktionstag der Regionalen Gesundheitskonferenz.
- Fragebogenaktion des Gesundheitsamtes am Aktionstag Kirn mit 150 Rückläufern
- mit Nachweis eines erheblichen Informationsdefizits der Eltern bzgl. der gesetzlichen Regelungen des Jugendschutzes und der Wirkungen des Alkohols
- sowie der Jugendlichen bezüglich der Wirkungen des Alkohols.
- Evaluation mit Hilfe der Krankenhäuser und des Rettungsdienstes per EDV im Gesundheitsamt.
- Zusammenarbeit mit dem statistischen Landesamt Bad Ems zu Ermittlung der Schülerzahlen in den verschiedenen Schultypen.
- Initiierung einer alkoholfreien Alternative zum Aufwärmen ausgekühlter Karnevalisten durch das DRK (kostenlose Teeausgabe bei Sponsoring durch den lokalen Lions Club).
Ergebnisse und Erreichtes
Quelle: Gesundheitsamt Bad Kreuznach 2010
Abb. 1: Fallzahlentwicklung stationär mit Alkoholvergiftung aufgenommener Kinder während des Altweiberfaschings
Es gelang, mit gezielter Öffentlichkeitsarbeit die Zahl der alkoholvergifteten Jugendlichen im Zeitraum 2006- 2010 während des Altweiberfaschings um 83% zu senken. Noch deutlicher wird der Erfolg, wenn man die lebensgefährlichen Fälle betrachtet. Hier liegt der Rückgang bei über 91 %.
Der Jugendschutzbeauftragte und die Krankenhäuser im Arbeitskreis berichten übereinstimmend von einer anhaltend positiven Entwicklung und Ausstrahlung der Aktion auch auf andere (in der Vergangenheit stärker alkoholbelastete) Events. Diese forderten früher (vor der gezielten Öffentlichkeitsarbeit) wesentlich mehr Vergiftungsopfer unter den Jugendlichen.
2006 war nur wenig über die Ursachen bekannt. Dies änderte sich mit dem Aktionstag der regionalen Gesundheitskonferenz in Kirn. Nach Auswertung der Fragebogenaktionen stand fest: Wesentliche Ursache des riskanten Alkoholkonsums der Kids bei uns ist ein doppelseitiges Informationsdefizit.
- Zum einen wissen die Jugendlichen erschreckend wenig über die Wirkungen des Alkohols,
- zum anderen wissen auch die Eltern zu wenig darüber sowie über die Bestimmungen des Jugendschutzgesetzes.
Die mediale Strategie wurde entsprechend verändert. Sie sieht seit Herbst 2010 getrennte Informationen für Eltern und Jugendliche vor. So wurden ab Silvester 2010 gezielt die Eltern mittels Zeitungsanzeige informiert (siehe Anlage 1), in der Faschingszeit werden die Jugendlichen in den Fokus der Aufklärungsarbeit rücken.
Das Altersspektrum der seit 2007 stationär aufgenommenen Jugendlichen reichte von 15 bis 17 Jahren. Als wichtiger Effekt unserer Arbeit ist die Reduktion der unter 17-Jährigen stationär behandlungsbedürftigen Jugendlichen in unserer Klientel anzusehen. Deren Anteil konnte bis 2010 auf 50 % des Ausgangswertes 2007 reduziert werden.
Die Evaluationsdaten der Krankenhäuser zeigen ferner, dass 2007-2009 die Hauptschüler massiv überrepräsentiert waren. Gerade überproportional betroffene bildungsferne 14- bis 16-jährige Jugendliche haben von unserer Öffentlichkeitsarbeit sehr profitiert. Ihr Anteil nahm kontinuierlich ab, 2010 war erstmals kein Hauptschüler mehr betroffen.
Quelle: Gesundheitsamt Bad Kreuznach 2010
Abb. 2: Hauptschüler überrepräsentiert: Relation der betroffenen Jugendlichen nach Schultypen 2007 - 2010
Neben den Hauptschülern erlauben unsere Daten die Identifizierung einer weiteren Gruppe jugendlicher Trinker. Es handelt sich dabei um Gymnasiasten, die bisher kaum oder gar nicht von unserer Öffentlichkeitsarbeit erreicht wurden. Bei uns laufen diese Jugendlichen unter dem Stichwort "emotional vernachlässigte Kids". Sie sind offenbar in der Lage, sich der elterlichen Kontrolle zu entziehen und werden 2011 im Zentrum der Aufklärungsarbeit stehen.
Quelle: Gesundheitsamt Bad Kreuznach 2010
Abb. 3: Zahl der alkoholvergifteten Gymnasiasten 2007 - 2010
Die Arbeitsgruppe hat beschlossen, das Projekt 2011 zeitlich ganzjährig auszuweiten. So hoffen wir, vergleichbare Ereignisse regional zu identifizieren, um unsere öffentliche Suchtprävention noch gezielter einzusetzen.
Das Projekt kann grundsätzlich auf andere Regionen übertragen werden. Anlässlich einer Dienstbesprechung 2009 in Mainz interessierte sich der Stv. Amtsarzt aus Bad Dürkheim dafür. Ihm wurde eine Projektbeschreibung zugesandt. Das Modell der Regionalen Gesundheitskonferenz, speziell der AG Prävention, wurde daraufhin 2010 vom Landkreis Bad Dürkheim für das dortige Gesundheitsamt übernommen. Eine Mitarbeiterin wurde 2010 zeitweise nach Bad Kreuznach abgeordnet, um die Arbeitsweise zu transferieren.
Fragen zum Wettbewerbsbeitrag
C 1 Fragen zur gesamtkommunalen Einbindung des Wettbewerbsbeitrags
C 2 Fragen zur Konzeption und Ausrichtung des Wettbewerbsbeitrags
Ordnungsämter
Krankenhäuser, Justiz
C 3 Fragen zur Umsetzung des Wettbewerbsbeitrags
Karnevalsvereine
Satzung der Regionalen Gesundheitskonferenz
Infos des Jugendamtes für Eltern und Jugendliche
Modell der Regionalen Gesundheitskonferenz, AG Prävention durch den Landkreis Bad Dürkheim